LVIV (Lemberg)/ Nationaloper: LOHENGRIN / STUTTGART: DIE LIEBE ZU DEN ORANGEN. “See life in pink, but do not wear it!”
Dr. Adelina Yefimenko hat eine Vorstellung in der Stuttgarter Oper („Liebe zu den drei Orangen“) besucht, drei Wochen später ist sie nach Lemberg gereist und war in der Lviv Oper. Die Neuinszenierung „Lohengrin“ des deutschen Regisseurs Michael Sturm hat sie sehr beeindruckt. Auch die Parallelen, die zwischen diesen beiden Inszenierungen entstanden waren, fand sie sehr treffend und hat die Eindrücke in eine Rezension gefasst
©Adelina Yefimenko, 2019
„Lohengrin“ als Masken-Theater und „Die Liebe zu drei Orangen“ als Computer-Spiel.
“See life in pink, but do not wear it!”In einem der bekanntesten Aphorismen von Karl Lagerfeld meinte die wohl berühmteste (mittlerweile verstorbene) Mode-Ikone der Gegenwart, dass Rosa-Kleider den Eindruck von Geschmacklosigkeit erwecken. Gewissermaßen wurde das Rosa-Kleid in seiner Mode-Welt mit dem Symbol des Infantilismus, der Naivität. sogar der Dummheit verbunden.
In den zwei letzten Neuinszenierungen, die ich besuchte, trugen Pink und Rosa sowohl der König aus Wagners „Lohengrin“ an der Lviv Nationaloper (Ukraine) als auch der melancholische Prinz aus Prokofjews „Liebe zu drei Orangen“ an der Stuttgarter Staatsoper. Die beiden Inszenierungen, ebenso eigenartig wie das Weltbild der Komponisten, hatten nicht nur die Regie-Idee „see life in pink, but do not wear it“ gemeinsam. Auch die Bühnenbilder zeigten ein extrem intensives, irrational und psychodelisch wirkendes, surrealistisches Konzept (dar). Die grelle und fabelhafte Bühnenvision in der Oper Prokofjews von Saskia Wunsch mit dem Lichtdesign von Reinhard Traubund und fantastischen Kostümen von Bettina Wernerschufen viele interessante Parallelen zu den blau-grünen sowie rosa-orangen Visionen des Raums-Spiels in „Lohengrin“. Die Bühne und Kostüme kreierte für die Lviver Neuinszenierung der Österreicher Matthias Engelmann.
„Lohengrin“, Lviv Nationaloper. König Heinrich der Vogler – Yurii Trytsetskyi, Telramund – Stefan Drobit. Foto: @Ruslan Lytwyn
„Die Liebe zu drei Orangen“. Stuttgarter Staatsoper. Pronz – Elmar Gillbertsson, Truffaldino – Daniel Kluge. Foto: ©Matthiar Baus.
Klar, dass Prokofjews Märchen-Oper zur Scherz, Parodie und Ironie inspiriert wie ihre literarische Quelle von Carlo Gozzi – den venezianischen Meister der Fiabi teatrali, Comedia-dell’arte. Der Regisseur Axel Ranisch verwandelt aber das Märchen in ein Computer-Spiel und erfindet neue Hauptdarsteller wie den kleinen Jungen Serioscha als künftiges IT-Genie. Sein virtuelles, Außer-sich-Sein beeinflusst alle Figuren, die Spaß und Bedrohung zugleich ausstrahlen. Die Szenerie „Der Liebe zu drei Orangen“ entwickelt sich zu einer abenteuerlichen Synthese der virtuellen, theatralischen und realen Welten. Der melancholische Prinz im dicken Rosa-Wintermantel (sehr treffende Besetzung mit Elmar Gilbertsson) spiegelt den Konflikt des Jungen mit seinem Vater im Kampf zwischen der Rosa-Computer-Traumwelt und dem Richtig-Handeln-Zwang des Vaters wider.
Anders wirkt die Interpretation des Wagners-Mythos im Rampenlicht der Comedia-dell’arte von Michael Sturm, mit dem der Intendant Vasyl Vovkun nach der gelungenen Premiere eine breite Kooperation plant.
Eine derartige Gattungs-Transformation des Regie-Teams signalisiert eine psychoanalytische Deutung des Frageverbots im „Lohengrin“. Lohengrin ist ein Zirkus-Akteur, ein Pagliaccio. Der Regisseur verwandelt den Gralsritter in den Zirkus-Weißclown Pierrot, denn Lohengrin, weiß angezogen und geschminkt, mit melancholischem Lächeln, schiebt auf der Bühne den riesigen Weichtier-Schwan vor sich her. Lohengrin begrüßt theatralisch das Clown-Kollektiv auf der Bühne und das Publikum. Er positioniert sich nicht als Erlöser. Wenn er aber zu Elsa spricht „Nie sollst du mich befragen, noch Wissens Sorge tragen…“–spielt er den authentischen Pierrot – autoritär, penetrant und arrogant. Nun, sollten wir Pagliaccios Worte ernst nehmen?
Der Schwan kommt aus der Zuschauerraum auf die Bühne, verkleidet als Clown-Weichtier im eleganten Mantel mit dem Holz-Case (was ist drin?). Die markante Karikatur eines Elite-Vertreters? Dabei schaut er das Publikum so streng an, dass plötzlich Schostakowitschs „Nase“ und Nase-Staatsrat in den Sinn kommt. Später wird er vom Heerrufer des Königs festgenommen, gefesselt und zusammen mit vier brabantischen Edlen zur Schau über die Bühne geführt. Im Finale kommt der Schwan frei und nimmt den Platz auf dem Bett neben einer Frau aus dem Brabanter-Volk ein. Er schickt den Lohengrin nicht nach „Monsalvat“ zurück, er verwandelt sich nicht zu Elsas Bruder Gottfried, er bleibt nur sitzen, ermüdet und fremd. Der neue Herzog von Brabant bleibt unerkannt. Lohengrin wischt seine Gesichtsfarbe ab und geht weg. Diese Comediaist für ihn „la Finita“. Auf ihn warten neue Bühnen des Welttheaters.
Auf dem„Jahrmarkt“ des Herzogtums Brabant herrscht vor allem der Heerrufer des Königs – ein Zirkus-Conférencier, der bestimmt, wann der Vorhang geöffnet wird und wann der Vorhang fällt. Im Rampenlicht erscheint er, um aktuellste Messages im Megaphon zu verkünden (schauspielerisch und vokal präsent Mykola Kotnutiak). Am Ende schaut er ins Leere und ruft in den Zuschauerraum: „Seht da, den Herzog von Brabant, zum Führer sei er euch ernannt“. Solche Interaktionen mit dem Publikum sind immer treffend und schlüssig. Anfangs ruft er nach Elsas Erlöser ins Publikum, im Finale deutet er an: jeder darf sich zur Herzogs-Wahl von Brabant anmelden. Im ukrainischen Opernhaus „am Vorabend“ der Präsidenten-Wahl mit der Rekordzahl an Bewerbern (39) spannt dieses absurde Theater einen Bogen in die Politik-Groteske, was nicht unbedingt das Ziel des Regisseurs war. Michael Sturm vermeidet die Aktualisierung mit der Gegenwart. Die monotone Drehung eines riesigen Ventilators an der linken Wand bildet ein in sich bewegliches Symbol der Zeitlosigkeit.
Das Publikum fühlte sich oft als Teilnehmer der Vorstellung, was immer wieder theatralisch höchst wirksam ist. Mal wieder eine neue originelle Version des Theaters im Theater! Das Theater reflektiert sich auf diese Weise selbst!
Dem Regisseur geht es im „Lohengrin“um die totale Genre- und Sinn-Konversion – nicht nur um den Mythos in den Parodie-Korpus umzuformen (es wäre dann nur die Spitze des Eisbergs).Comedia-dell’arte spielt an der Oberfläche, fast wie im Strauss’schen Sinn für das Theater:„Die Tiefe muss man verstecken. Wo? An der Oberfläche“. Die Akteure der neuen Lohengrin-Geschichte – Heinrich der Vogler als Märchenkönig in Rosa, Lohengrin als Pierrot, Friedrich von Telramund als japanischer Samuraj in reich verzierter Rüstung, die sehr wenig Bewegungen gestattet – besuchen verträumte,(sic!)traumatischeFrauen, die alle im Betten liegen.
Die marionettenhaften Gestalten bewegen sich ähnlich wie vom Computer gesteuerte Figuren aus Prokofjews Märchen-Spiel von Axel Ranisch. In beiden Inszenierungen verwischen sich die Grenze zwischen Wirklichkeit und Irrealität: die kontroverse Version des Raums vom engen zum offenen, virtuellen, quadratisiertin großen Pixel surreale, psychodelischeLandschaften, ebenso die Prinzessinnen, die nicht aus den Orangen, sondern aus den gigantischen Computer-Mäusen auftauchen.
Das grün-blaue quadratische Zimmer im „Lohengrin“mit Wänden und Böden aus weichen Gummi-Stoff (ebenfalls quadratisch gemustert) hat zwei Türen, durch die das Volk von Brabant, die Speer-Ritter in gleichen goldenen Masken taumeln. Sind sie gekommen, um Frauen zu schützen oder um sie zu überwachen?
Alle Frauen gleichen sich ebenfalls und teilen sich in zwei Gruppen:die blau-grün-haarigen und die rot-orange-haarigen. Links sammeln sich die Träumerinnen in Erwartung auf den Prinz, Erlöser oder einfach zur Liebe fähigen Mann. Elsa ist eine von ihnen. Rechts – die temperamentvollen, kampfbereiten und souveränen Frauen, wie Ortrud. Sie hat ihren Ehemann bekommen – einen Samurai-Krieger. Elsa erscheint ihr Traummann als Weißclown, der ihr sagt: „Elsa, ich liebe Dich“ und später: „Nie sollst Du mich befragen“. Damit scheitern alle Hoffnungen auf die bedingungslose Liebe.
Dank der vielen kleinen Rampenlichter, die die Hauptbühne einsäumen, dank der schrillen Schönheit der Lichtgestaltung und der bunten Clownerie kommt man nicht sofort auf die Idee, dass in diesem „Theater im Theater“eine Comedia-dell’arte namens „Lohengrin“ in einer psychiatrischen Klinik für Frauen aufgeführt wird, dass die blau-grünen Frauenkleider mit überlangen Ärmeln die Zwangsjacken gleichen. Wie lange sind die Frauen eigentlich schon krank? Seit der Geburt, der Hochzeit, der Ehescheidung? Im Träumen verlieren sie sich die, denen Unrecht getan wurde. Die schönen jungen Mädchen verbringen den ganzen Tag auf dem Bett des Irrenhauses, an einem Ort, an dem der ewig gleiche Alltag ins Irreale abdriftet und lang verschüttete Erinnerungen in die Realität einbrechen.
Der Regisseur deutet das Verhalten von psychisch Kranken und setzt in der Personen-Regie meisterhaft das Bild der zerbrechlichen Seelen in zerbrechliche Gestik um. Manchmal genießen die jungen Damen von Brabant die Momente, in denen die Akteure nicht präsent sind. Zum Beispiel, wenn die Figuren von Lohengrin und Telram und nach dem Kampf wie Spielzeug weggeworfen werden, wenn der Rosa-König Heinrich und Lohengrin betrunken herumliegen, wenn Telramund im lethargischen Schlaf dasitzt während Elsa und Ortrud das schönste Duett über Glück und Frieden singen. Solche Mise en Scène deutenSchwäche, Nutzlosigkeit, Passivität der Männer-Gestalten an, die zum Lebens-Prinzip geworden sind.
Im zweiten Akt bleiben auf der Bühne von achtundzwanzig Betten nur zwei. Durch die großen Dimensionen dieser beiden Betten wirken die Liebes-Paare Elsa/Lohengrin und Ortrud/Telramund optisch klein. Die Assoziationen zu „Alice im Wunderland“ liegen auf der Hand. Die Frauen sehnen sich nach Wunderland, (von denen) nur Ortruds Haltung mit breit gestreckten Armen wirkt immer wach, stark und sicher. Die Hochzeitszene weckt dann alle Frauen aus dem Schlaf. Der Bühnenraum, der vorher beengt wirkte, öffnet seine Perspektive nach außen. Rituell kreisend erinnert diese„Opfer-Prozession“ an Strawinskys Le sacre du printemps, erweckt einen unglaublich starken doppelbödigen Eindruck. Es gibt viele exzellente Momente in dieser sanften Choreographie: synchron, und fließend, wie verträumte Rheintöchter. Das Theater als Psychotherapie wird zum Kern der Lohengrin-Geschichte von Michael Sturm.
Für seine Männer-Gestalten brauchte der Regisseur keine starken Helden-Tenöre. Allerdings zeigte sich die Männerbesetzung nicht nur körperlich, sondern auch stimmlich blass (Nutthaporn Thammathi und Roman Corentsvit). Die Neuproduktion „Lohengrin“ entstand aus der Idee des Musikdirektors Myron Yusypovych, der die Partitur-Ausgabe von 1887 (Leipzig, Breitkopf und Härtel) in der Hand hatte. Obwohl der Dirigent die Helden-Tenöre sowie das Bühnenbild auf Grund von originären Partitur-Hinweisen Richard Wagners vermisste, entwickelte sich das Orchester dynamisch entsprechend dem Wagners Klangrausch. Die Frauenbesetzung Olesia Bubela und Alla Rodina als Elsa und Mariia Berezowska und Liudmyla Savchuk als Ortrud agierten hervorragend, besonders die Mezzosopranistinnen mit guten Wagner-Stimmen.
Fazit. Einen traurigen Apell senden die beiden Regisseure Michael Sturm und Axel Ranisch an die gescheiterte Männer-Welt, die keine Liebe mehr kennt: Lohengrin,Telramund, König von Brabant, derPrinz, sein Vater, Celio, Leander…Im Computer-Spiel„Der Liebe zu drei Orangen“ sowie im Masken-Theater„Lohengrin“handeln die Zauberer und Zauberinnen, Frauen und Männer, Akteure und Verrückte, die einander hassen, ausnützen, traumatisieren oder aber gleichgültig bleiben.
Auf der Bühne bringen die Regisseure in ihren Inszenierungen ein visuelles Kürzel für ihre Gedanken. Sie suchen nach Ankern in der Gegenwart, um die alten Geschichten und Mythen dort einzuhacken und die Zuschauer zu berühren. Handeln vollzieht sich immer im Spannungsfeld zwischen Seelenverfassung und Pflicht. Der Prinz sowie der Lohengrin-Clown sind Träumer. Das macht sie sympathisch, zugleich aber auch schwach und belanglos. Beide Könige, die als Pragmatiker und Landherrscher für die Geschichte verantwortlich sein sollten, bilden sowohl bei Wagner als auch bei Prokofjew keine Alternative. Sie scheitern immer wieder in den modernen Auslegungen verschiedener Regisseure.
Das Finale in beiden Opern halten das Publikum bis zur letzten Sekunde gespannt: „wenn wir mit der alten Welt gebrochen haben und die neue noch nicht formen können, tritt die Satire, die Groteske, die Karikatur, der Clown und die Puppe auf“. Diese Zeilen des österreichisch-deutschen Dadaisten Raoul Hausman könnte als passender Schlüssel für beide Inszenierungen gelten – Prokofjews „Die Liebe zu den drei Orangen“ von Axel Ranisch (Oper Stuttgart) und Wagners „Lohengrin“ von Michael Sturm (Lviv Nationaloper). Die Synthese von Mythos, Comedia-dell’arte, Psychoanalyse, Farce, Kitsch in postmodernen Opern-Konzepten zerbricht unsere gegenwärtige Weltwahrnehmung in eigenartige Fragmente. Dabei vertrauen wir der historischen, kulturellen sowie gesellschaftlichen Wirkung des Theaters. Lohengrins Frageverbot interpretiert Michael Sturm als Freiheitsverbot und erwartet, dass das Theater immer wieder neue Frage stellt, um das Publikum zur Selbstreflexion anzuregen.
Erklärende Fotos: Lohengrin“. Lviv Nationaloper. Foto: @ Ruslan Lytwyn
„Lohengrin“, Lviv Nationaloper. Elsa – Olesia Bubela, Lohengrin – Roman Corentsvit. @ Ruslan Lytwyn.
„Lohengrin“, Lviv Nationaloper. König Heinrich der Vogler – Yurii Trytsetskyi. Chor der Lviv Nationaloper.@ Ruslan Lytwyn
„Lohengrin“, Lviv Nationaloper. Telramund – Stefan Drobit, Ortrud – Mariia Berezowska. @ Ruslan Lytwyn
Die Liebe zu drei Orangen“. Stuttgarter Staatsoper. Foto: @Matthias Baus.
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