Lohengrin in Lemberg/ OPERN UND KONZERTKRITIKEN

Ein Traum von Freiheit

Die Oper in Lemberg zeigt seit Jahrzehnten mal wieder eine Wagner-Oper – mit großem Erfolg

Von Bernd Feuchtner

(Lemberg, 1. März 2019) Auch wer kein Ukrainisch spricht, wird leicht erraten, was die Frauen in ihren Betten lauter und lauter skandieren: „Nie sollst du mich befragen!“ Zur Ouvertüre führen Sie dann in ihren grünen Zwangsjacken ein Abendritual durch, bevor sich jede zum Träumen ins Bettchen legt. Die eine Hälfte hat feuerrote Haare – das ist natürlich die Partei von Ortrud. Die Elsas tragen blaugrünes Haar. Und die ganze Gummizelle, in der sie leben, ist bis oben hin mit grünen Matten belegt. Dieser optisch sehr attraktive „Lohengrin“ ist eindeutig grün.

Wenn man zur ersten Wagner-Premiere seit Jahrzehnten nach Lemberg/Lwiw reist, sollte man nicht mit einer ukrainischen Lesart rechnen – das Regietheater ist auch dort angekommen. Der Bühnenbildner Matthias Engelmann hat die Werkstätten dazu gebracht, einmal auf die gewohnten bemalten Sofitten zu verzichten und stattdessen drei Wände zu bauen. Mit dem inzwischen verstorbenen Eugen Lysyk hatte das Haus einen genialen Ausstatter, dessen künstlerisch raffinierte Bühnenbilder gerne auch vom Bolschoi Theater ausgeliehen wurden. Mehr als zwei Neuproduktionen je Saison sind in Lwiw nicht drin, denn das Ministerium bezahlt nur die Gehälter, alles andere muss aus den Einnahmen und von eventuellen Sponsoren bestritten werden. Der jetzige Intendant Vasyl Vovkun war von 2007 bis 2011 Kulturminister und weiß offenbar, wie er seine Visionen auch realisieren kann. Im goldglänzenden Spiegelsaal hat er Kammerkonzerte eingeführt und er veranstaltet sonntägliche Kindervorstellungen. Er hat einen Kooperationsvertrag abgeschlossen mit der Katholischen Universität, bei deren Grundsteinlegung 2001 Papst Johannes Paul II. anwesend war – bei diesem Besuch in Lemberg segnete er auch die Uraufführung der Oper „Moses“, die der Vatikan finanziert hatte.

Die ebenfalls von Engelmann entworfenen Kostüme sind liebevoll und detailreich ausgeführt: Der Heerrufer kommt als Entertainer im schwarzen Glitzerfrack und der rosa bestrumpfte König Heinrich scheint einer Offenbach-Operette entsprungen: Wenn er „der Ungarn Wut“ beschwört, tupft er sich mit seinem riesigen, weißen Taschentuch nervös die Stirn. Auch die Aufrufe ans deutsche Schwert und deutsche Land stören bei diesem Roi Carotte niemanden.

Als Erste erwacht Ortrud. Hinter ihrem Bett zieht sie als ihren Verteidiger einen Samurai in Prachtrüstung hervor. Elsa hat weniger Glück: Der Schwan, der in Trenchcoat und mit Koffer aus dem Zuschauerraum kommt, zieht einen Pierrot aus der Gasse. Der ist eher erschrocken über die Rolle, die er da spielen soll. Elsa kann gar nicht verstehen, was er ihr mit dem Frageverbot abverlangt, sie spielt es nur mechanisch nach. Beim „Gottesgericht“ hat Lohengrin keine Mühe mit dem Samurai: Er schubst ihn einfach, und das urzeitliche Monster bleibt liegen wie ein dicker Käfer. Regisseur Michael Sturm erzählt eine Geschichte der Überforderung. Und tatsächlich war ja die Unerfüllbarkeit der Liebe Wagners Thema im „Lohengrin“. Sie scheitert nicht zuletzt auch am Anspruch, zugleich die Welt zu verändern.

Die Vielschichtigkeit von Wagners Partitur wird aus dem Orchestergraben deutlich: Myron Yusypovych hält das Orchester der Staatsoper von Lwiw in lebendiger Bewegung. Und so entsteht immer wieder Magie, vor allem, wenn das Bild auf der Bühne einfriert. Der Herrenchor mit seinen silbernen Totenmasken und den langen Stäben hat die eingesperrten Damen fest im Griff: Dies ist ein männerdominiertes Stück. Der von Vasyl Koval und Johannes Köhler einstudierte Staatsopernchor schafft souverän die von Wagner intendierten Überwältigungsmomente.

Bei den meisten Sängern ist die Wortverständlichkeit groß: nicht nur bei dem zarten, intensiven Lohengrin des aus Salzburg angereisten Nutthaporn Thammathi, auch bei dem markanten König Heinrich von Andrii Maslakov, dem vergeblich aufbegehrenden Telramund von Stepan Drobit und der energischen Ortrud von Maria Berezovska. Die sehr verwundbare und berührende Elsa von Olesia Bubela wird zum Zentrum der Oper, die hier eigentlich „Elsa und Ortrud“ heißen müsste. Die Auseinandersetzungen zwischen den beiden Frauen sind gerade deshalb so spannend, weil es hier keine Striche gibt. Auch wenn am Ende die beiden Frauen sich wieder zu Bette legen, so haben sie doch einmal ihren Traum von einer Befreiung aus der patriarchalischen Gesellschaft träumen können.

Wie bei einem Symposium zu erfahren war, das Professorinnen der Lemberger und verschiedener polnischer Musikhochschulen – das Fach ist fest in weiblicher Hand – anlässlich der Premiere veranstalteten, war „Lohengrin“ zwischen 1877 und 1939 die beliebteste Wagner-Oper in Lemberg. Die Sopranistin Solomija Kruschelnyzka, nach der das Theater seit 2000 benannt ist, war auch eine gefeierte Elsa. In Sowjetzeiten war Wagner ungeliebt, es gab lediglich einen „Lohengrin“ sowie eine „Tannhäuser“-Produktion Anfang der 1980er Jahre, wo beim Bacchanal der Pariser Fassung nackte Brüste zu sehen waren – da wurde der „Tannhäuser“ nach zwei Vorstellungen wieder abgesetzt. Diesmal ist der Kulturminister aus Kiew positiv gestimmt. Das Publikum im prachtvollen Neorenaissance-Theater, das im Oktober 1900 eröffnet und in den letzten Jahren mit viel Blattgold restauriert wurde, ist erstaunlich jung und nimmt die Aufführung mit Begeisterung an – nur eine emeritierte polnische Professorin ruft beim Regieteam verhalten „Buh“.

Das Lemberger Opernhaus war schon einmal frisch renoviert worden: Im August 1942 bildete das „Heiligtum der Kunst“ am neugetauften „Adolf-Hitler-Platz“ die Kulisse für den Auftritt des Generalgouverneurs von Polen, Hans Frank. „Wir Deutschen,“ sagte Frank, „gehen nicht in fremde Länder mit Opium und ähnlichen Maßnahmen wie die Engländer. Wir bringen anderen Nationen Kunst und Kultur.“ Die Aufführung von Beethovens Dritter Leonoren-Ouvertüre und Neunter Sinfonie sollte das bekräftigen. „Dass wir 1,2 Millionen Juden zum Hungertod verurteilen, sei nur am Rande festgestellt,“ notierte der Jurist Frank in seinem akribisch geführten Diensttagebuch.

Zwischen dem 7. September 1941 und dem 6. Juli 1943 brachten die Deutschen allein in Lemberg mehr als 8000 Kinder um, wie die Anklage im Nürnberger Prozess aufzählte. Als die Nazi-Truppen im Juni 1941 die Sowjetunion überfielen, lebten in Lemberg/Lwow etwa 160.000 Polen, bis zu 150.000 Juden und 50.000 Ukrainer. Eine Woche vor der Einnahme hatte der sowjetische Geheimdienst in Lemberger Gefängnissen 4000 politische Gefangene ermordet. Die Nazis nutzten das, um gleich nach der Einnahme der Stadt ein Judenpogrom zu veranstalten, bei dem über 3000 Menschen getötet wurden. Internationales Entsetzen erregte der „Lemberger Professorenmord“: im Juli 1941 wurden 45 polnische Professoren und Angehörige erschossen. Im weiteren Verlauf der Besatzung wurden 110.000 bis 120.000 Lemberger Juden von den Deutschen ermordet.

Zwei Lemberger Juristen, Hersch Lauterpacht und Raphael Lemkin, führten die Begriffe „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ und „Völkermord“ ins Völkerrecht ein – zum ersten Mal im Nürnberger Prozess.

Sieben Jahrzehnte nach der Befreiung von den Nazis spielen deren Untaten offenbar keine Rolle mehr bei der Beurteilung von Richard Wagners Musik – jedenfalls war im Symposium der Musikprofessorinnen davon nicht die Rede. Und bei der Aufführung im Theater war es ebenfalls die Musik, die das Publikum in Bann schlug. Weitere Wagner-Produktionen scheinen nicht ausgeschlossen. Der Regisseur träumt bereits von einem Lemberger „Ring“. Als nächste Neuproduktion ist erst mal für Juni „Hoffmanns Erzählungen“ geplant.

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